Marc Chagall: Die weiße Kreuzigung

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Lest anschließend die folgende Interpretation:

Marc Chagall vollendete dieses Votivbild 1938, als in Deutschland die Synagogen brannten. Der Raum, in dem das Schreckliche geschieht, gleicht einer vom Tod gezeichneten Landschaft, die verschmutzter eisiger Schnee leichenbleich bedeckt. Chagall malt im Stil klassischer Ikonen: Im Zentrum, in einem Lichtband, der gekreuzigte Jude Jesus, an den Seiten, oben und unten Szenen, die den Gekreuzigten in die aktuelle Leidensgeschichte des Gottesvolks stellen – das erneut beginnende, sich immer wiederholende Martyrium der Juden. Als Lendentuch trägt er den jüdischen Gebetsschal, statt der Dornenkrone ein jüdisches Kopftuch. Über dem Haupt des Gekreuzigten die Inschrift I.N.R.I., dazu in hebräischer Sprache: Jesus von Nazareth König der Juden. Das Lichtband leuchtet gezielt aus dem Himmel. Der Gekreuzigte hängt im himmlischen Licht. An ihm hängt die Hoffnung. Ans Kreuz gelehnt malt Chagall die Himmelsleiter, die Jakob im Traum sieht. Sie verbindet Himmel und Erde. […] Zu Füßen des Kreuzes steht in heller Aureole der Tempelleuchter, und über dem Kreuz schweben wehklagend die Urväter Abraham, Isaak und Jakob und mit ihnen Rahel […] Um diese Mitte, den exemplarisch leidenden Juden Jesus, gruppiert Chagall schreckliche Szenen des Unheils: Links stürmt eine Rotte Soldateska unter den roten Fahnen der 1917er Revolution den Hügel hinauf gegen ein brennendes Dorf mit umgestürzten Häusern. Ein Boot mit erschöpften Frauen, Männern und Kindern treibt auf einem Fluß ans Ufer – Richtung Hoffnung stiftenden Lichtkegel. Jüdische Flüchtlinge, die keiner will. Rechts oben steht unter der verzerrt gefärbten Fahne Litauens eine Synagoge in Flammen. Ein SA-oder SS-Mann in schwarzbrauner Uniform mit glutrotem Gesicht hat die Synagoge erreicht, sie in Flammen gesetzt und schickt sich an, die heilige Thorarolle aus dem Schrein zu reißen, nachdem er das Inventar auf den Boden vor der Synagoge geworfen hatte. Rechts unten im weißen Rauch des Weihrauchs glimmend eine Thorarolle, deren heiliger Dufthauch die Himmelsleiter hinaufzieht, und ein Jude im grünen Kaftan, seine Habseligkeiten in einem Sack auf dem Rücken, flieht klagend durch sie hindurch. Ganz unten preßt eine Jüdin voller Angst ihr Kind an sich. Links unten flüchtet ein Jude, der entsetzt zur brennenden Synagoge zurückblickt, schreiend davon mit einer Thorarolle, die er mit beiden Armen an sich drückt. Und vor ihm schreitet ein hilfloser Alter ins Leere. Auf seinem Brusttuch stand ursprünglich „Ich bin ein Jude“. Ganz unten links blickt ein Jude den Betrachter an. Sein Gesicht ist eine Frage. Wie Sven Findeisen, der Chagall-Liebhaber, feststellte, hat Chagall den wiederholt gemalten Gekreuzigten nirgends so eindeutig im Stil christlicher Kreuzigungsbilder dargestellt. Gleichwohl bleibt es ein Bild im jüdischen Kolorit […]: Nach der Ganzzerstörung des Tempels […] 2000 Jahre zuvor, gehen jetzt auch die Synagogen und Thorarollen in Flammen auf. […] Den leidenden Jesus deutet er als den exemplarischen Juden.

D. Müller (https://www.kirchliche-sammlung.de/wordpress/wp-content/uploads/2021/03/2021_1_Ostern_WEB.pdf)

Schreibt eine eigene Antwort auf die Frage: Was ist das Besondere an dieser Kreuzdarstellung und warum hat Marc Chagall Jesus auf diese Weise gemalt?